Jetzt möchte ich Deine Gedanken lesen können. 😉
Die Menschen verhalten sich einfach nicht, wie ich es gerne hätte. Der Projektleiter hat mit dem Auftraggeber wieder mal großzügig Termine vereinbart, ohne mich gefragt zu haben, wieviel freie Kapazität ich überhaupt habe. Der neue Kooperationspartner schickt mich ohne Hintergrundinformationen zum Kunden. Natürlich will ich für ihn einen guten Job machen, damit er zufrieden ist. Ein Kunde will mich als Alibi benutzen, um eine Mitarbeiterin entlassen zu können. Das sind so Momente, in denen ich spüre, wie in mir der Ärger hochsteigt und ich drauf und dran bin, die Moralkeule auszupacken, um dem anderen mal kurz aber deutlich die Meinung zu sagen, dass es so nicht geht.
Jetzt erkläre ich euch mal, wie es laufen soll
Oft muss ich dann an eine Situation denken, die schon lange her ist, sich mir aber tief ins Gedächtnis eingebrannt hat: Ich habe für ein Jahr an einer Schule in einem abgelegenen Dorf in Namibia Deutsch unterrichtet. Es kam immer wieder vor, dass Schüler einfach wochenlang fehlten. Hausaufgaben erledigten auch nur einige. Einmal, als wieder kaum jemand die Hausaufgaben gemacht hatte, habe ich förmlich gespürt, wie mein Blutdruck steigt und meine Erregung platzte aus mir heraus. Dann passierte etwas völlig Überraschendes: Die Kinder fingen an zu lachen! Das hat mich sofort gestoppt. Was sollte ich davon halten? Ich war sprachlos und ratlos. Einige Kollegen sagten mir nur, das sei normal. Ein Lehrer, mit dem ich inzwischen befreundet war erzählte mir, dass manche Kinder zu Hause die Ziegen hüten müssen und dann natürlich nicht in die Schule kommen können.
Wenn zwei Welten aufeinanderprallen
Wegen der Ziegen also. In dem Moment habe ich gemerkt, dass ich aus einer völlig anderen Welt komme. Ich hatte meine Maßstäbe und Erwartungen angelegt. Doch hier war ich nicht nur in einem anderen Land, sondern in einer ganz anderen Kultur. Hier funktionierte das Leben völlig anders. Das war die erste Generation, die für 10 Jahre zur Schule ging. Ich war ganz selbstverständlich von meinen Vorstellungen zu Schulbesuch, von meinen Erwartungen zu Hausaufgaben und zum Lernen ausgegangen. Die passten hier einfach nicht.
Dieser Lehrer hat mir die Augen geöffnet.
Ich war glücklich, dass ich das Verhalten meiner Schüler nun verstehen konnte. Immer wieder, fast täglich, sind mir in Namibia Dinge passiert, die ich nicht verstanden habe: Denkweisen, Reaktionen, Rituale. Ich bin mittags oft mit Fragezeichen im Kopf nach Hause gegangen. Das war irritierend und anstrengend. Damals ist es mir zur Gewohnheit geworden, innerlich „Moment mal“ zu sagen und meine Bewertungen sein zu lassen. Ich bin sehr, sehr dankbar für das, was mir in dieser Zeit passiert ist, und was ich daraus für mich lernen konnte. Dieses innere „Moment mal“, um Zusammenhänge und Beweggründe für ein Verhalten zu erkunden, habe ich mir als Beraterin bewahrt.
Mut zur Demut
Heute kann ich, wenn ich bewerte, schnell wieder auf Abstand dazu gehen, meine Annahmen sein lassen und versuchen zu verstehen – offen und interessiert. Auch wenn Menschen sich nicht so verhalten, wie ich es gerne hätte. Manchmal müssen wir einfach vertrauen. Ich weiß, dass meine Erwartungen vom Miteinander genau das sind: Nicht mehr als meine Vorstellungen. Und die muss nicht jeder teilen, selbst wenn ich das noch so schön fände.
Wer anderen ständig erklärt, der glaubt zu wissen. Und mal ganz ehrlich: Wer mag schon diese Besserwisser, die einem ungefragt ihr Wissen und ihren guten Rat aufdrängen? Wer zuhört und Fragen stellt, kann einen ganz anderen Zugang zu seinem Gegenüber finden, kann neue Perspektiven dazu gewinnen. Mit ein bißchen Demut. Wenn ich das Wort anders buchstabiere, mit De-Mut. Demut kann eine Form von Mut sein. Mut, die eigenen Überzeugungen mal pausieren zu lassen und sich dem anderen vorbehaltlos zu öffnen, denn:
Um klar zu sehen, genügt oft ein Wechsel der Blickrichtung.
Antoine de Saint-Exupéry