SOS – Als Führungskraft im Dauerstress

Eine neue Coachee. In der Tür steht eine Frau, die mir als erstes erzählt, dass sie in der Nacht kaum geschlafen habe. Bei einem Espresso in der Küche, noch bevor wir uns gesetzt haben, zählt sie mir auf, welche Themen ihr unter den Nägeln brennen. „Dieser Dauerstress frisst mich völlig auf. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte.“, sagt sie.

Dauerstress als Führungskraft einfach aushalten?

Sie springt von einem Thema zum nächsten. Ich drohe in den vielen Informationen zu versinken. Sie hat vor acht Monaten ein Team übernommen – ihr erstes Team. Der Vorgänger hat bei dem Team das Handtuch geworfen. Sie will es besser machen, sie will an sich arbeiten und ein effektiv arbeitendes Team daraus machen. (An der Stelle lasse ich erstmal so stehen, was sie darunter versteht.) Das Team ist zerstritten. Nur wenige arbeiten engagiert mit, ein Mitarbeiter agiert teilweise sogar gegen sie. Abends schleppt sie einen Rucksack voller negativer Emotionen mit nach Hause. Hinzu kommt, dass sie privat ebenfalls gefordert ist: Sie hat zwei kleine Kinder und gerade ein Haus gebaut. Ihr Mann unterstützt sie zwar, hat aber selbst einen anspruchsvollen Job.

Eine Frau sieht Rot

Ich fragte sie nach ihrem aktuellen Energielevel. „Im roten Bereich. Empty.“, antwortete sie. Somit hatte das Thema ihrer Überlastung oberste Priorität vor allen anderen Themen.  Ich arbeite in solchen Situationen gerne mit dem Modell des Energiekreislaufs (Den Autor dieses Modells konnte ich nicht herausfinden. Danke ihm an dieser Stelle.) Anhand dieses Modells nehmen wir beide Seiten – die Energieräuber, die uns stressen, vor allem aber unsere Energie-Tankstellen – in den Blick.

Am Flip Chart habe ich zwei Kreise skizziert – einen für die Energie-Tankstellen wie Freunde, Familie, Hobby, Sport, gutes Essen. Den anderen für die Energieräuber wie enge Zeitvorgaben, bestimmte Vorschriften und Entscheidungen, fehlende Zusammenarbeit im Team, Social Media, manche Bekannte oder Freunde. Es können Personen (genauer: deren Verhalten), Anforderungen oder Situationen sein. Das entstandene Bild machte sie zunächst sprachlos. Der Kreis mit ihren Energieräubern war vollgeschrieben. Tankstellen hat sie in unserem Gespräch dagegen wenige gefunden. Das Ungleichgewicht war überdeutlich.

Wie voll ist Ihr Energie-Tank aktuell?

Machen Sie den Energie-Check. Sie identifizieren nicht nur Ihre Energieräuber, sondern auch die Dinge, die Ihnen neue Energie geben und Ihre persönlichen Kraftquellen sind. Dadurch sehen Sie nicht nur, wie gut Sie gerade in der Balance sind. Sie entwickeln schnell Ideen, was Sie ändern können, um Ihr Stresslevel zu reduzieren.

Die nächste Reaktion meiner Klientin war: „Ich denke gerade darüber nach und sehe, dass ich vieles gar nicht ändern kann.“ „Stimmt. Einiges können Sie nicht ändern. Und doch können Sie etwas Entscheidendes ändern: Wie Sie mit Ihrem Stress umgehen.“, sagte ich. Wenn jemand stark unter Stress steht, dann ist das wie Tempo 200 km/h auf der Autobahn. Der Blick verengt sich. Als Führungskraft im Dauerstress. Gerade in einer Sandwich-Position ist das eher die Regel als die Ausnahme. Man nimmt man die eigenen Fähigkeiten nicht mehr wahr und sieht nur noch Probleme – wie in einem Tunnel.

Wenn wir den Stress nicht ändern können, dann müssen wir unser Umgehen damit ändern

So habe ich gemeinsam mit meiner Klientin geschaut, was sie bei akutem Stress tun kann, um ihre Emotionen und ihr Stresslevel im Griff zu behalten. Am besten gefallen hat ihr das bewusste Atmen. Im zweiten Schritt haben wir ihre Stressauslöser in drei Gruppen eingeteilt und für jede Gruppe eine Strategie entwickelt.

Im Coaching (und nicht nur im Coaching) ist mein Credo, die Ressourcen zu stärken, statt sich auf Probleme zu konzentrieren. Wir haben ihre Erwartungen an sich selbst auf den Prüfstand gestellt sowie Fähigkeiten und Erfahrungen wieder in ihr Bewusstsein gebracht, die ihr in ihrem schwierigen Führungs-Job nützlich sein können. 

Die innere Erlaubnis

Bei meiner Klientin hat dieses Aufschreiben spontan etwas ins Fließen gebracht. Der diffuse Stress war greifbar. Jetzt konnte sie Ihre Gefühle und Gedanken dazu ordnen. Das Gefühl, nicht hilflos ausgeliefert zu sein und anders, besser mit ihrem Stress umgehen zu können, hat ihr akutes Stresslevel merklich reduziert. Plötzlich war das Monster Dauerstress nicht mehr übermächtig. Sie hat beschlossen, mit ihrem Chef die Projekte zu priorisieren. Entscheidend war: Sie hat sich die Erlaubnis gegeben, täglich etwas Zeit für sich zu reservieren, auch wenn es nur 10 Minuten sind. Sie überlegt jeden Abend eine Sache, die sie am nächsten Tag für sich tun wird und plant das fest in ihren Tag ein.

Wir müssen nicht alles tun, was andere von erwarten oder verlangen. Wir müssen Grenzen setzen. Das verlangt Mut und dass wir uns unsere Grenzen eingestehen. Private wie Arbeitsbeziehungen können auf Dauer nur auf der Basis solcher Klarheit gedeihen.

Zur Übersicht...